Das Overton-Fenster:
Wie radikale Ideen populär werden

Das Overton-Fenster ist ein Denkwerkzeug aus der Politikanalyse. Es hilft uns zu verstehen, warum viele Ideen nicht ernst genommen werden – und welchen Weg Ideen gehen müssen, um am Ende doch Veränderung zu bewirken. Ein Konzept, das auch Kreativen und Unternehmen nutzen kann.

15. März 2021

Was ist das Overton-Fenster

Das Overton-Fenster markiert den Rahmen an Ideen, die im öffentlichen Diskurs zu einem Zeitpunkt toleriert werden. Ideen innerhalb des Overton-Fensters sind also gesellschaftlich akzeptiert und liegen im Bereich des politisch Umsetzbaren. Ideen außerhalb des Fensters sind zu radikal, um ernsthaft diskutieren zu werden. Aber: Das Fenster kann verschoben oder erweitert werden und damit auch, welche Ideen diskursfähig, populär und politisch möglich sind.

Entwickelt hat das Konzept Joseph P. Overton, der ehemalige Vizepräsident
der konservativ-libertären Denkfabrik »Mackinac Center for Public Policy«.

Ein Beispiel

Kannibalismus liegt etwa hierzulande so weit außerhalb des Fensters, dass die Möglichkeit ihn zu legalisieren, nicht einmal denkbar ist. Würden Forscherinnen jedoch herausfinden, dass der regelmäßige Genuss eines menschlichen Oberschenkels die Lebenserwartung um bis zu zehn Prozent steigert, könnte die Idee Eingang in den Diskurs finden und zu einer radikalen Position werden. Ein paar provokante Einwürfe eines ProKannibal-Politikers und zwei Kampagnen später gilt Kannibalismus vielleicht noch als abseitig, aber zumindest als eine akzeptierte Idee – usw. Die Idee kämpft sich ihren Weg in Richtung Mitte, so wie es über die letzten Jahrzehnte hinweg etwa auch Frauenrechte, die gleichgeschlechtliche Ehe oder Vegetarismus getan haben.

Alles Leben ist Politik

Versteht man Politik als die Fertigkeit, Teams zu bilden und gemeinsam an geteilten Zielen zu arbeiten, dann hilft uns das Overton-Fenster nicht nur dabei, die Akzeptanz von Ideen in der Politik besser zu verstehen, sondern in so ziemlich allen Gruppen: in Organisationen, Familien oder Unternehmen. Die Corona-Krise hat beispielsweise das Overton-Fenster in vielen Unternehmen radikal verschoben, wenn es darum geht, wie wir arbeiten. Homeoffice und Remote-Work in der heutigen Form wären vor der Krise undenkbar gewesen. Heute gelten die Regelungen in vielen Unternehmen zumindest als vernünftig.

»Politicians will rarely support whatever policy they choose whenever they choose; rather, they will do what they feel they can do without risking electoral defeat, given the current political environment shaped by ideas, social movements and societal sensibilities.«

Von rationalen und sozialen Gründen

Weil Politiker wiedergewählt und Entscheidungsträgerinnen befördert (oder zumindest nicht gefeuert) werden wollen, sind sie stark dazu incentiviert, Ideen zu unterstützen und umzusetzen, die weit innerhalb des Overton-Fensters liegen. Umgesetzt wird, was in der eigenen Referenzgruppe populär ist. Die undenkbaren und radikalen Ideen am Rande – egal wie sinnvoll oder auch nicht – stehen erst gar nicht zur Diskussion. Denn solche zu befürworten, wäre politischer oder karrieretechnischer Selbstmord. Ideen werden also oft nicht aus rationalen, sonder aus sozialen Gründe abgelehnt.

»How does the Window move? Simple: start introducing ridiculously radical subjects and taking them seriously. When that happens, people won’t necessarily accept them, but they’ll be more inclined to discuss something further in that direction.«

Mittels Provokation in die Mitte

Radikale Ideen müssen also Schritt für Schritt in Richtung Mitte des Overton-Fensters manövriert und damit popularisiert werden, um auch wirklich Veränderungen anzustoßen. Eine erprobte Strategie, die vor allem von rechter Politik gerne genutzt wird, um das Fenster zu ihren Gunsten zu verschieben, ist Provokation. Inferiore Ideen werden in den Diskurs geworfen und damit erweitert sich kontinuierlich, was denkbar, aussprechbar und handlungsfähig ist. Vormals radikale Ideen verwandeln sich in Positionen aus der Mitte. Dass diese Strategie funktioniert, haben wir über die letzten Jahre leider zur Genüge erlebt. Die Rechte weiß leider zu gut, wie sie das Denkwerkzeug Overton-Fenster für sich nutzt. Und auch Werbung und Kommunikation waren schon immer ganz gut darin, mittels Provokation Ideen zu popularisieren. 

»The smart way to keep people passive and obedient is to strictly limit the spectrum of acceptable opinion, but allow very lively debate within that spectrum—even encourage the more critical and dissident views. That gives people the sense that there’s free thinking going on, while all the time the presuppositions of the system are being reinforced by the limits put on the range of the debate.«

Noam Chomsky, The Common Good

Das Overton-Fenster als Denkwerkzeug

Wie können wir das Overton-Fenster aber als sinnvolles Denkwerkzeug nutzen? Das Konzept kann uns dabei helfen, zu verstehen, wie Veränderung durch Ideen funktioniert – oder warum auch nicht: (1) Dass gute Ideen nicht aufgegriffen werden, liegt oft nicht an rationalen Gründen, sondern an sozialen. (2) Denn Politikerinnen und Entscheidungsträger haben kaum Anreize, Ideen aufzugreifen, die als radikal oder undenkbar gelten – unabhängig davon, wie nützlich diese Ideen sein könnten. (3) Doch gerade am Rand des Fensters liegen per Definition die innovativen und spannenden Gedanken. (4) Will man diese Ideen innerhalb einer Gruppe popularisieren, muss man das Overton-Fenster öffnen. (5) Und das geht etwa mittels Provokation, aber auch mit Hilfe von Phantasie – indem man sich selbst und anderen aufzeigt, wie die Dinge noch sein könnten.

Fotocredit: @fanfandyuen, unsplash.com

Der Newsletter.

Sie stolpern gefühlt über die immer selben Inhalte? Solche, die weder Spaß machen noch neue Ideen und Erkenntnisse anschubsen? 

Hier gibt’s Abhilfe.

Hinterlassen Sie Ihre E-Mail-Adresse und freuen Sie sich künftig regelmäßig über perspektivenerweiternde Essays, Notizen und Werkzeuge zu Denken, Schreiben und Wachstum.

Scroll to Top